„Blasenschwäche“ – noch immer ein Tabuthema?

  • 03. September 2022

  • Andrea Wendler

  • Heilpraktikerin, Physiotherapeutin, Osteopathin

Wenn man die vielfältige Werbung im Fernsehen und in den Printmedien für Hygieneartikel und pflanzliche Präparate anschaut, die bei Harninkontinenz und Prostataleiden empfohlen werden, gewinnt man den Eindruck, daß dieses Thema nicht mehr so schambesetzt ist wie in früheren Jahren.

Angesichts von etlichen Millionen betroffener Frauen und Männer, deren Lebensqualität deswegen gemindert ist, begrüße ich diesen offeneren Umgang sehr.

In Erstgesprächen mit Patient*innen fällt mir auf, daß auf die Frage, welche Beschwerden sie zu mir als Osteopathin führen, fast nie Störungen der Blasenentleerung oder Kontinenz erwähnt werden. Spreche ich das Thema konkret an, zeigt sich ein großes Informationsdefizit über mögliche Therapieoptionen. Es ist noch nicht hinlänglich bekannt, daß man in vielen Fällen (am Besten nach vorheriger ärztlicher Abklärung) osteopathisch unterstützen kann.

Ich möchte einige Leiden kurz darstellen und ihnen anschließend die osteopathische Vorgehensweise nahebringen.

  • Harninkontinenz (unwillkürlicher, unkontrollierter Harnverlust)

    Häufige Formen der Inkontinenz:

    • Belastungsinkontinenz (Stressinkontinenz)
      Ausgelöst durch körperliche Belastungen wie Heben, Husten, Niesen, Lachen, Pressen. Urinverlust beim Gehen, Bewegen, Aufstehen kennzeichnen höhere Schweregrade. Die Belastungsinkontinenz ist die häufigste Form von Blasenschwäche bei Frauen.
    • Dranginkontinenz
      Man spürt den unwiderstehlichen Harndrang, schafft es aber nicht mehr rechtzeitig zur Toilette.
    • Mischinkontinenz
      Kombination beider oben genannten Formen
    • Überlaufinkontinenz
      Tröpfchenweiser und kontinuierlicher Urinverlust
      Bei Blasensteinen, Prostatahyperplasie
  • chronische Zystitis (Blasenentzündung)
    Die schmerzhafte Infektion tritt immer wieder in Abständen auf.
    Sie tritt vermehrt bei Frauen jeglichen Alters auf.

  • Benignes Prostatasyndrom (gutartige Prostatavergrößerung)
    Symptome: imperativer und häufiger Harndrang, auch nachts.
    Gestörtes Wasserlassen (abgeschwächter Harnstrahl, Nachtröpfeln)
    Es verbleibt Restharn in der Blase, da die Vergrößerung der Prostata die Harnröhre einengt.

  • Chronisches Beckenschmerzsyndrom/ chronische Prostatitis
    Schmerzen beim Wasserlassen, Blasenentleerungsstörungen, nächtliches Wasserlassen, plötzlicher Harndrang
    Schmerzen beim Stuhlgang
    Schmerzen im Genitalbereich
    Zumeist bei Männern jüngeren und mittleren Alters

Die osteopathischen Behandlungsansätze:

Sie haben das Ziel Symptome zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern. Blase und Prostata unterliegen vielen komplexen Einflüssen im Körper, was die ursprüngliche Beweglichkeit, Elastizität und Durchblutung des Gewebes abnehmen lässt und Funktionsstörungen begünstigt. Je zahlreicher diese Einwirkungen sind, umso weniger gelingt dieser Körperregion die Kompensation.

Zunächst findet eine gründliche Erhebung der Anamnese statt.

  • Abfragen der genauen Symptome
  • Vorerkrankungen
  • Operationen besonders im Unterleib und Bauchraum
  • Narben, Verwachsungen
  • Unfälle wie Sturz auf das Becken, Steißbein, Schambein,Schleudertraumata
  • Anzahl der Geburten
  • Sozialanamnese
  • Tägliche Belastungen, Stress, Sport etc.

Im Stehen betrachtet der Osteopath aufmerksam die Haltung, die Körperproportionen. Vielleicht stellt er eine Druckerhöhung im Bauchraum fest, die auf den Rücken, Brustkorb und/oder auf den Unterleib übertragen werden kann. Oder die Gewebeerschlaffung von Bauchdecke und Bauchinhalt ruft ein Absenken des Dünndarms (Ptose) hervor, wodurch Blase und Prostata komprimiert werden.

Folge: Stauungsphänomäne im kleinen Becken werden begünstigt. Die venolymphatische Zirkulation nimmt ab, Bindegewebige Aufqellungen am Becken, vermehrte Bildung von Besenreisern können sichtbar sein.

Beim dann in Rückenlage liegenden Patient*in begibt sich der Osteopath*in mit seinen tastenden Händen auf Spurensuche. Ihm fallen veränderte Gewebespannungen und die Abnahme der Bewegungsfreiheit von anatomischen Strukturen auf.

Im Bewegungsapparat testet er :

  • das Becken, Schambein, Kreuzbein, Steißbein
  • Das Kreuz-Darmbein-Gelenk (ISG)
  • Hüften
  • Restriktionen oder Blockaden der Wirbelsäule, besonders die Segmente 10. Brustwirbel bis 2. Lendenwirbel sind für die nerval vegetative Versorgung wichtig.
  • aber auch Knie und Füße wegen der faszialen Verbindungen zum Beckenboden.
  • Im kleinen Becken werden die Lage und Beweglichkeit der Organe (Blase, Gebärmutter, Prostata, Mastdarm) geprüft.

Im darüber liegenden Bauchraum

  • Interessiert die Leber wegen ihrer anatomischen, bandheftigen Verbindung zur Blase.
  • Benachbarte Verdauungsorgane wie Dünndarm (Ptose, gestörte Darmflora) und Dickdarm
  • Narben, Verwachsungen

Bei der Gewährleistung einer guten Drainage des Beckens spielen besonders drei Querstrukturen eine essenzielle Rolle:

  • das Diaphragma (Zwerchfell)
  • der Beckenboden (nicht immer ist er geschwächt, er kann auch verspannt sein)
  • die obere Thoraxapertur (die Öffnung zwischen Brustkorb und Hals)

Den cranialen Aspekt (Schädel) spare ich an dieser Stelle aus.

Ich hoffe, ich konnte ihnen einige interessante Informationen vermitteln und sie ein wenig von der faszinierenden Komplexität ihres Körpers begeistern.

Osteopathische Behandlungen eignen sich somit als:

  • Prophylaxe
  • Ergänzung bei schulmedizinischen Therapien
  • Nachbehandlung von Operationen

Wir sind ein ganzheitliches System. Das heißt: Unsere Einstellung zum Leben, unsere Erfahrungen und auch seelischen Verletzungen beeinflussen uns auch körperlich. Die Osteopathie kann über den körperlichen Aspekt also auch der Seele Gutes tun.